Wenn einer eine Reise tut, so kann er viel erzählen.
(Matthias Claudius, Urians Reise)
Reisen als kulturelle Errungenschaft
Sesshaftigkeit scheint - zumindest gemäss verbreiteten Geschichtsbildern
- ein relativ junges Phänomen in der Menschheitsgeschichte zu
sein. Es gibt verschiedene Theorien, die den Übergang vom Nomadentum
- insbesondere in Form des "Jagens und Sammelns" im Gefolge
von wandernden wilden Tierherden bzw. des Hirtendaseins mit mehr
oder weniger zahmen Viehherden - zur sesshaften Ansiedlung in Ackerbausiedlungen
und schliesslich Städten beschreiben. Dabei dürfte es sich
um eine typische Entwicklung insbesondere in den nördlichen
gemässigten Zonen unserer Erdkugel - wenn nicht gar spezifisch
des eurasischen Kontinents - handeln.
Diese doch ziemlich eurozentrische Perspektive prägt unser verbreitetes
Geschichts- und Weltbild.
Ähnliches trifft auf die uns bekannten, aus der Schule 'vertrauten' Völkerwanderungen
zu: auf den über Jahrtausende gestaffelten Einzug ganzer Völkergruppen
aus dem inner- und ostasiatischen Raum in den vorderen Orient und nach Europa
- wo sie sich (grösstenteils) früher oder später fest angesiedelt
haben.
Sowohl das "Nomadentum" als auch die "Völkerwanderungen" berichten
von klein- und grossräumigen 'Reisen' kleinerer Gruppen oder
ganzer Völker - die aber kaum viel gemein haben mit dem, was
wir heutzutage im Rahmen des weltweiten Tourismus, sei es individuell
oder in Gruppen oder gar in "Massen", unter 'Reisen' verstehen.
Mit dem Nomadentum wären vielleicht das tägliche Pendeln
oder die Bewegungen von Wanderarbeitern und Saisonniers, mit den
Völkerwanderungen die aktuellen Flüchtlingsströme
oder die Zuwanderung von "Fremdarbeitern" in die Länder
der 'ersten Welt' zu vergleichen.
Im heutigen Erscheinungsbild, das wir von den älteren Kulturen
vermittelt bekommen, unterscheiden sich die (örtlich, geographisch)
beweglichen und bewegten Gesellschaften ganz krass von den sesshaften:
Von den wandernden Völkern kennen wir nur wenige 'Denkmäler'
in Form von festen Installationen in der Landschaft; im 'Glücksfall'
einige "Schutzbauten" (auch Höhlen) oder Landmarken.
Die meisten Kulturgegenstände, die wir von ihnen kennen, stammen
aus Gräbern - oder aus dem Besitz von Sesshaften -, sind mobil
und werden heute (wo nicht privat) in sehr "sesshaften" Museen
aufbewahrt.
Demgegenüber sind uns auch von sehr frühen sesshaften Kulturen
zumindest durch Ausgrabungen zahlreiche fest in der Erde und in der
Geographie verankerte 'Denkmäler' in Form von Bauten und festen
Einrichtungen bekannt und zugänglich. - Heute reisen andere
Sesshafte zu diesen 'alten Zeugen' (mehr oder weniger) fremder Kulturen.
Wahrscheinlich gab es auch in nomadisierenden Gesellschaften immer
wieder Einzelne oder Gruppen, die aus ihrem angestammten Lebensraum
'in die Welt hinaus' zogen, nicht nur um neue Lebensräume zu
erschliessen, sondern einfach, um 'die Welt zu entdecken' und vielleicht
sogar ihre Eindrücke wieder 'nachhause' zurückzubringen.
Sicher belegt sind solche Weltreisenden aus den Gebieten der sesshaften
und städtisch organisierten Kulturen schon für sehr frühe
Zeiten; und es ist teilweise ganz erstaunlich, was sie über
die "Merkwürdigkeiten", denen sie dabei begegneten,
zu berichten wussten. - Dass sie damit vor allem in jüngeren
Zeiten dem religiösen, wirtschaftlichen und politischen Kolonialismus
aus einem 'aufstrebenden' Europa den Weg ebneten, kann man ihnen
nicht ohne weiteres zur Last legen.
Kultur-Reisen
Reisen im heutigen Sinne dürfte hauptsächlich eine Errungenschaft
sesshafter Kulturen sein, die in ihrer 'relativ engen' Installation
in der Welt - insbesondere mit zunehmendem Bildungsstand - das Bedürfnis
entstehen lassen, 'wieder' in die Welt hinauszutreten und 'sich umzusehen'
- zu reisen.
Was Wunder, wenn diese Reisenden die Welt aus ihrer Perspektive des "Besitzes" wahrnehmen
und beurteilen.
Was Wunder, wenn sie die Tendenz zeigen, sich diese Welt - besonders
wo sie noch nicht vollständig nach ihren Regeln des Besitzes
geordnet ist - (nicht nur geistig) anzueignen und in Besitz zu nehmen
- auch auf die Gefahr hin, dass sie je länger je mehr auf ihren
Reisen nur noch sich selbst begegnen.
Dass sich dabei auch gewisse 'Relikte aus der Zeit der Jäger
und Sammler' manifestieren, macht die Sache leider nicht besser ...
Im Zeitalter des Tourismus ist aus einem Reisen zu fremden Kulturen
mit ihren besonderen Lebensweisen und "Merkwürdigkeiten" ein
Industriezweig der 'hochzivilisierten' Gesellschaften zur Verwertung
der 'übrigen' Welt entstanden. Gegenstand dieser Verwertung
sind nicht nur Landschaften und Städte mit ihren mehr oder weniger
spezifischen (oft sich immer mehr angleichenden) Angeboten zur Befriedigung
typischer Touristen-Bedürfnisse wie Erholung, Fun und Suspence
(früher Abenteuer). Gegenstand sind auch - und immer 'professioneller'
integriert - die "Kulturgüter", welche zunehmend Gefahr
laufen, zu 'geläufigen' Konsumgütern der Tourismusindustrie
zu verkommen - und dabei abgenutzt und verbraucht - zu werden.
Ein Zeichen für diese "Geläufigkeit" (eine -
relativ harmlose - Form der Abnutzung) ist der zunehmende Druck auch
auf die Verwaltungen von an sich aussergewöhnlichen Kulturdenkmälern,
ihren Besuchern 'noch etwas mehr' ("Animation") zu bieten.
Zwar gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Stimmen, welche
auf die Gefahren der Kulturzerstörung (sowohl der lebenden als
auch der toten Kultur) durch einen überbordenden (Massen-)Tourismus
hinwiesen und aufzeigten, dass die Folgen sowohl für den kulturellen
Reichtum unserer Welt als auch umgekehrt für den Tourismus selbst,
der seine eigenen Ressourcen zerstört, längerfristig fatal
sind.
Aus beiden Perspektiven wurde versucht, geeignetere Formen des Reisens
zu entwickeln: "das andere Reisen", "Reisen - anders
als anders", ...
Leider sind die Ergebnisse auf beiden Seiten nicht sehr ermutigend:
- Auf der einen Seite ist - etwas vereinfacht ausgedrückt -
einfach ein neuer, zusätzlicher Tourismuszweig entstanden, der
auf einem hart umworbenen Markt seinen Anteil zu (er-und be-)halten
versucht.
- Auf der anderen Seite werden durch einen 'alternativen' Tourismus
(mit in diesem Sinne erhöhten Ansprüchen an das Angebot)
bisher kaum bekannte oder unerreichbare - und dadurch geschützte
- Gebiete dem Tourismus und seinen Verwertungsgesetzen erschlossen.
- Dies bedeutet, dass gerade ein 'Erfolg' dieses 'alternativen Reisens'
insgesamt fatale Konsequenzen haben kann.
Reise-Kultur(en)
Solange das Reisen einseitig als Freizeit- und Konsum-Angebot für "Sesshafte" (Besitzende)
konsumiert wird, ist es insbesondere im Bereich der kulturellen Begegnung
sehr schwierig, "andere" Qualitäten des Reisens zum
Zuge kommen zu lassen.
Grundlegend "andere" Situationen sind möglich, wenn
die Reisen / Besuche gegenseitig stattfinden: Wenn ich die Leute,
die ich in ihrem Land, in ihrer kulturellen Umgebung besucht habe,
auch bei mir empfangen kann - sie mich als BesucherInnen in meiner
kulturellen Umgebung erfahren können.
"Andere" Situationen entstehen auch, wenn ich in einer 'fremden' Kultur
arbeite oder längere Zeit als Gast lebe - oder wenn Angehörige 'fremder'
Kulturen bei uns arbeiten oder längere Zeit als Gäste leben.
Damit "andere" Situationen als Voraussetzung für 'echte
kulturelle Begegnungen' entstehen können, sind eine gewisse
Zeit und eine Begegnung auf gleichwertigem Niveau unabdingbar. Beides
ist im 'normalen' Tourismus fast grundsätzlich nicht, aber auch
im 'alternativen' Reisen nur sehr selten gegeben.
Reise-Oekonomie
Sobald an einer "Destination", einer Ziel-Region, mit wesentlich
unterschiedlichen ("unterentwickelten") wirtschaftlichen
Strukturen eigene Einrichtungen zur Erfüllung von Touristen-Bedürfnissen
geschaffen werden (müssen), wird bei einem touristischen Erfolg
die wirtschaftliche und soziale Situation in dieser Region aus dem
Gleichgewicht gebracht.
Zwar kann für einige 'privilegierte' Einheimische ein gewisser
Gewinn abfallen. Aber normalerweise wird dadurch nur das wirtschaftliche
und kulturelle Gefälle zwischen der Tourismusindustrie und der
verwerteten Region ins Innere dieser Region verschoben.
Auch wenn das noch so 'gut gemeint' ist, entspricht dies einem 'kolonialistischen'
Eingriff - und führt durch die damit verbundenen Werteverschiebungen
(fast) zwangsläufig zu einer (Zer-)Störung der 'ursprünglichen'
Kultur.
Diese Effekte lassen sich nur vermeiden oder wenigstens vermindern
und längerfristig auffangen, wenn die Besucher durch bestehende
Strukturen - ohne (an örtlichen Massstäben gemessen) grössere
Investitionen - aufgenommen werden können.
Wirtschaftliche Impulse müssen möglichst sanft und gleichmässig
in das bestehende Gleichgewicht einfliessen, breit und flach statt
konzentriert und akzentuiert.
Am besten wird dies funktionieren, wenn viele - möglichst aus
ihrer traditionellen Tätigkeit heraus - ein bisschen 'dazuverdienen'
können.
Zum Beispiel Armenien
Das heutige Armenien - als Land in den Bergen des südlichen
Kaukasus, zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer, ein kleiner Rest
eines früher weit nach südwesten ausgedehnten armenischen
Siedlungsraumes - liegt historisch wie geographisch im Schnittpunkt
mehrerer der oben angesprochenen Dimensionen von Wanderung und Sesshaftigkeit:
Eine kaukasische Legende setzt den Ursprung von Armenien mit dem
Hirten Gaik als Stammvater der Armenier vor ca. 4000 Jahren an; 200
Jahre später soll der Berg Ararat seinen Namen zum Gedenken
an den von den Truppen der Königin Semiramis von Babylon, der
Erbauerin der berühmten Hängenden Gärten, getöteten
jungen König Arai erhalten haben. Erebuni, das älteste
bauliche Zeugnis der aktuellen Hauptstadt Eriwan, ist knapp 3000
Jahre alt. Als erstes Land mit christlicher Staatsreligion feierte
Armenien im Jahre 2001 das 1700-jährige Jubiläum.
Nur ein Jahrhundert jünger ist die armenische Schrift, welche
die eigene - sesshafte - Kultur vor Überfremdung durch wechselnde
herrschende Kulturen schützen sollte; denn das Land wurde wiederholt
durch benachbarte Reiche unterworfen oder von eindringenden Völkern
aus dem Inneren Asiens überrannt - zuletzt von Osmanen und Türken.
Interkontinentale Verkehrswege wie verschiedene Zweige der sogenannten "Seidenstrasse" führen
seit alters her durch die Region.
In jüngster Zeit bildet hier die Frage der Führung neuer
Oel-Pipelines vom Kaspischen zum Schwarzen Meer einen ständigen
Streitpunkt zwischen den benachbarten Ländern.
Schon in früheren Zeiten taten sich im Ausland (im Orient wie
in Europa) immer wieder Armenier in bedeutenden Rollen und Stellungen
hervor; wichtige Institutionen wie führende armenische Klöster
lagen teilweise ausserhalb des Landes - auch in Europa. Seit der
Dezimierung und Vertreibung der Armenier aus den östlichen Provinzen
der Türkei zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebt nun aber der
weitaus grössere Teil der Armenischen Bevölkerung im Ausland.
Und unter den katastrophalen ökonomischen Bedingungen seit dem
Erdbeben von 1988 und dem Krieg mit Aserbeidschan von 1992 schreitet
noch heute die Entvölkerung des kleinen Landes weiter voran.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte Armenien auch
eine gewisse touristische Blüte erlebt. Der hoch in den Bergen
gelegene Sevansee, die Thermalbäder von Dschermuk, die Wander-
und Skigebiete in Dilidschan, die Sommerfrische in Stepanavan, die
vielen interessanten Baudenkmäler aus der langen und bewegten
Geschichte des Landes waren Anziehungspunkte für viele Touristen
aus der Sovietunion und besonders aus Russland, aber auch aus dem
eigenen Lande. Heute liegen die Anlagen brach. Im Land ist eine Art
Vakuum entstanden, das aber angesichts unterbrochener oder schwer
passierbarer Zugangswege, fehlender eigener Mittel und mangelnder
Investoren kaum aufzufüllen ist.
***
Ironischerweise könnte aber gerade diese Situation gute Bedingungen
für 'alternative' Formen des Reisens bilden:
- Ausser in Eriwan selbst gibt es kaum professionelle Unterkunft
und Betreuung für ausländische Touristen, aber die Bevölkerung
ist sehr gastfreundlich und offen gegenüber Besuchern. So ist
es nicht schwierig, bei einheimischen Familien Aufnahme zu finden
- und wenn sie dabei ein bisschen etwas verdienen können ...
- Auf den grösseren Achsen durch das Land gibt es normalerweise
irgend eine Form von öffentlichen oder privaten (Mini-)Bussen.
- Um in entlegenere Gegenden oder Ortschaften zu gelangen, wird aber
in der Regel ein Auto mit Chauffeur benötigt.
- Um sich im gebirgigen Gelände zu bewegen, eignen sich einheimische
Pferde ausgezeichnet. - Sie stehen nicht besonders für Touristen
zur Verfügung, können aber beispielsweise von lokalen Bauern
gemietet werden.
- Die Geschichte von Armenien ist unter anderem in Form von charakteristischen
und auch architektonisch besonders interessanten Baudenkmälern
im Alltag sehr präsent und viele Leute haben hier erstaunliche
Kenntnisse über ihre Geschichte. - So wundert es nicht sehr,
dass für Auskünfte und Erklärungen leicht begeisterte
und gut qualifizierte FührerInnen zu finden sind.
Eine hochspezialisierte Infrastruktur für (ausländische)
Gäste besteht in Armenien - insbesondere ausserhalb von Eriwan
- kaum.
Dafür ist es möglich, auf einem geringen Niveau von Spezialisierung
und Professionalisierung die gewünschten und benötigten
Dienstleistungen in einer besonderen, individuellen Qualität
durch den Einbezug lokal verankerter Infrastruktur, vermittelt durch
lokal verankerte PartnerInnen bereitzustellen.
***
Auf solche Weise wird Armenien nicht kurzfristig von seiner aktuellen
materiellen Armut befreit werden.
Aber einige Menschen können - beispielsweise neben ihrer auf
Selbstversorgung ausgerichteten Landwirtschaft - zu einem kleinen
(vielleicht sporadischen oder besser regelmässigen) zusätzlichen
Verdienst kommen.
Es können in der Stadt ebenso wie auf dem Lande unkomplizierte
und gegenseitig befruchtende Begegnungen mit freundlichen Menschen,
nahe am armenischen Alltag zustandekommen.
Ein Kontakt mit der historischen Kultur durch ihre tradierten Kulturgüter,
mit der aktuellen öffentlichen Kultur in ihren mannigfaltigen
Manifestationen wie auch mit der lebendigen Alltagskultur der Menschen
kann auf einfache Weise angebahnt werden.
pierrot hans
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